Berlin – Eigentlich hatte Alessandro Michele alles falsch gemacht. Sich darauf eingelassen, in nur fünf Tagen eine Laufsteg-Kollektion zusammenzustellen. Alle stilistischen Spuren seiner Vorgänger verwischt. Männer in «Frauenkleidung» gesteckt.

Kreativen Überschwang statt einer klaren Linie dargeboten. Tja, das war’s dann wohl für ihn – so dachten viele nach der Gucci-Show vom 19. Januar 2015 in Mailand. Wie man sich täuschen kann!

Nur zwei Tage später wurde Alessandro Michele offiziell zum neuen Kreativdirektor von Gucci ernannt. Heute zählt der 44-Jährige laut «Time» zu den «100 einflussreichsten Menschen der Welt». Seine hyperornamentierten Kollektionen inspirieren die ganze Modebranche. Man spricht bereits von einer «Guccifizierung». Doch ist das nur die äußere Fassade. Dahinter stellt Michele die Statik des ganzen Systems in Frage.

Nur würde er selbst das nicht so sehen. Spricht man ihn etwa darauf an, er sei der Vorreiter einer genderlosen Mode, wehrt er ab. «Ich habe das nicht erfunden. Das haben vor mir auch schon Armani und Yves Saint Laurent gemacht», erklärte er einmal gegenüber dem Magazin «Harper’s Bazaar». Das stimmt, aber nur bedingt. Denn die beiden Genannten überführten Elemente aus der Männer- in die Damenmode, Michele wählt die umgekehrte Richtung. Er gibt dem Mann das zurück, was ihm die Verbürgerlichung der Mode einst nahm: die Rüschen, die Stickereien, die Seide, den Brokat.

Bei seinen Shows weiß man oft nie, ob da gerade ein Mann vorbeilief oder eine Frau. Für ihn ist das alles ganz logisch. «Es geht mir nur darum, Schönheit zu zeigen, und die liegt für mich in einem Bereich, der nicht klar definiert ist. Nicht Mann, nicht Frau. Weder klassisch schön, noch hässlich», sagte er in einem Interview des französischen Magazins «Antidote».

Geboren wurde Alessandro Michele 1972 in Rom. Seine Mutter arbeitete in der Filmindustrie, sein Vater als Techniker bei der Fluggesellschaft Alitalia. Er war aber auch Künstler, schuf unter anderem Skulpturen. Michele bezeichnet ihn oft als einen «Schamanen». «Mein Vater besaß keine Uhr. Er wusste nicht einmal, wann mein Geburtstag ist. Er sagte immer, wenn du dich von der Idee gelöst hast, dass Zeit existiert, wirst du für immer leben», offenbarte Alessandro Michele in einem Porträt, das 2016 im Magazin «The New Yorker» erschien.

Die Vorstellung von «Zeitlosigkeit» taucht heute in seiner Art Mode zu denken wieder auf. Seine Kollektionen sind keine in sich geschlossenen Themenblöcke, sondern einzelne Kapitel einer großen Idee von Freiheit, Poesie und Romantik. Oder, wie es Anna Wintour, die Chefredakteurin der US-«Vogue» einmal formulierte: «Er hat uns dazu gebracht, freier zu träumen.»

Am Anfang versuchte man noch, die Botschaft einzelner Looks zu entschlüsseln. Es war sinnlos. Warum sich welche Epochen, Ornamente, Hoch- und Subkulturen gerade auf einem bestimmten Outfit treffen – der Designer weiß das manchmal selbst nicht so genau.

Ursprünglich wollte Alessandro Michele Kostümdesigner werden. Sein Studium absolviert er an der Accademia di Costume e di Moda in Rom. Nach dem Abschluss entwarf er zunächst für Les Copains, dann für Fendi – bereits seit 2002 ist er bei Gucci tätig. Als 2015 dann die glücklose Frida Giannini entlassen wurde, rückte er an die Spitze der Kreativabteilung nach.

Manche Kritiker werfen Alessandro Michele vor, der Hype sei erst durch Instagram entfacht. Weil seine expressiven Kollektionen ideal für die Plattformen der sozialen Medien sind. Zumindest hat er die Gucci-Kundschaft verjüngt. Nur, wird man sich an dieser Opulenz nicht irgendwann sattsehen? Dann muss Alessandro Michele zeigen, ob er in der Lage ist, sich noch einmal neu zu erfinden.

Die neuen Radikalen der Modewelt

Will sich die Mode weiterentwickeln, braucht sie Designer, die bereit sind, Regeln zu brechen. Und gerade das passiert im Moment in einem Maße, wie lange nicht. Es werden Schönheitsnormen hinterfragt, Geschlechtergrenzen aufgelöst, Banalitäten zum Luxus umkodiert.

Letzteres ist die Paradedisziplin von DEMNA GVASALIA und seinem Label Vetements. Er macht die uncoolsten Kleidungsstücke begehrenswert und spielt mit Stereotypen – ein Grenzgang zwischen Avantgarde und Parodie.

Ihm nicht unähnlich ist GOSHA RUBCHINSKIY. Beide kombinieren eine bestehende Logo-Ästhetik mit ihrer eigenen und überzeichnen so den Marken-Kult. Der prollig anmutende Stil des Russen Rubchinskiy wird im Westen mit «post-sowjetisch» etikettiert.

Wie er treibt auch VIRGIL ABLOH mit seinem Label Off-White die Streetwear immer tiefer in den Luxussektor hinein.

Dort ist Gucci ohnehin beheimatet. Und mit ALESSANDRO MICHELE kam die kreative Anarchie ins Haus. In seinen phantasievollen Kollektionen reißt er alle Grenzen nieder, zwischen Hoch- und Subkultur, zwischen Mann und Frau.

Vieles von dem, was diese Designer entwerfen, kann irritieren und verstören. So war es am Anfang aller modischen Umwälzungen, von Chanel bis Comme des Garçons. Ob es einer der neuen Radikalen in die Riege der großen Moderevolutionäre schafft, wird jedoch erst die Zukunft zeigen.

Fotocredits: Daniel Dal Zennaro
(dpa)

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